Fusionsreaktor noch immer in weiter Ferne

Die Broschüre umreißt noch einmal den Grundgedanken der Kernfusion: "Die Verschmelzung (Fusion) zweier leichter Atomkerne, z. B. Wasserstoff, setzt enorme Mengen Energie frei. Dies ist der Prozess, der im Inneren der Sonne abläuft. Damit eine solche Fusion möglich wird, müssen die abstoßenden Kräfte zwischen den Kernen überwunden werden. Hierfür sind extrem hohe Temperaturen im Bereich einiger 100 Mio. Grad Celsius erforderlich. Unter solchen Bedingungen entsteht ein Plasma, d. h., Atomkerne und Elektronen bewegen sich frei voneinander." Wissenschaftler sprechen schon seit den 1960er Jahren davon, die Kernfusion zu verwirklichen und trotz hoher Milliardenbeträge, die weltweit bislang in die Entwicklung der Fusion investiert wurden, sind die Forscher noch weit davon entfernt, eine wirtschaftlich funktionierende Anlage zu bauen. Das zeigt auch die neue Broschüre des Büros für Technikfolgenabschätzung.
Die Autoren zeigen dabei auf, dass in der Öffentlichkeit ein eher verzerrtes Bild über den Stand der Kernfusionsforschung besteht und "Superlative, Weltrekorde und Durchbrüche ein weit verbreitetes Stilmittel" in der Berichterstattung sind:
* „Historischer Durchbruch in der Fusionsforschung: Laser haben die Kernfusion gezündet!“ (2022)
* „ITER: eine einzigartige internationale Kollaboration um die Kraft der Sterne nutzbar zu machen“ (2017)
* „Neue Technologien könnten den ,Heiligen Gral‘ in Reichweite bringen“ (2023)
* „Entscheidender Durchbruch bei der Kernfusionsenergie“ (2022)
* „US-Kernfusionslabor tritt in eine neue Ära ein: ,Zündung‘ gelingt immer und immer wieder.“ (2023)
* „Britischer Kernfusionsreaktor stellt neuen Weltrekord für Energieerzeugung auf.“ (2024).
Nicht nur für Laien ist es bei dem zu beobachtenden üppigen Gebrauch reißerischer Sprache schwierig bis unmöglich einzuschätzen, welche tatsächliche Relevanz Meldungen dieser Art für die praktische Umsetzung von Fusionskraftwerken haben, schreiben die Aurtor*innen. Dies betreffe nicht nur die Berichterstattung in den traditionellen und in Onlinemedien, sondern auch die Sprache, die in Mitteilungen von Forschungseinrichtungen und deren Vertretern verwendet werde.
So wurde beispielweise vom Culham Centre for Fusion Energy (2024) jüngst gemeldet: Das Culham Centre for Fusion Energy "hat bewiesen, dass es in der Lage ist, zuverlässig Fusionsenergie zu erzeugen und hat gleichzeitig einen Weltrekord in der Energieerzeugung aufgestellt.“ Erst ein zweiter Blick auf das zugrunde liegende Ereignis verrät, dass dieses für die Community der Plasmaforschung sicherlich interessant sein mag, für den weiteren Weg hin zu einem Fusionskraftwerk jedoch kaum nennenswerte Relevanz aufweist. Denn eine Nettoenergieerzeugung habe hier weder stattgefunden noch wäre sie überhaupt geplant gewesen.
"Leider sind missverständliche Äußerungen wie diese keine Seltenheit", stellen die Autor*innen der Broschüre fest. Im Gegenteil: "Übertrieben optimistische Schätzungen von Zeit- und Kostenrahmen für die Entwicklung sind in der Geschichte der Kernfusion eher die Regel als die Ausnahme gewesen." Das gilt auch für das im französischen Cadarache gelegene ITER-Projekt, bei dem in der Versuchsanlage ITER die physikalische Machbarkeit eines energieerzeugenden Plasmas nachgewiesen werden soll. Bei DEMO, das dem ITER nachfolgen soll, sollen alle in einem Kraftwerksbetrieb benötigten Komponenten so weit entwickelt werden, dass sie im Zusammenspiel so betrieben werden können, dass Strom produziert wird, ggf. aber nur über einen begrenzten Zeitraum von Minuten oder Stunden. Erst danach ist PROTO, der Kraftwerksprototyp vorgesehen. Und erst danach wäre die Fusion so weit entwickelt, dass kommerziell nutzbare Fusionskraftwerke gebaut werden könnten.
Doch auch beim ITER wurden alle Zeit- und Kosteneinschätzungen gerissen: "Als das ITER Projekt 2007 formell begann, ging man von einer Inbetriebnahme 10 Jahre später aus, bei Gesamtkosten von 5 Mrd. Euro." Inzwischen haben wir das Jahr 2025 erreicht und nichts ist fertiggestellt. Über eine Inbetriebnahme etwa in 2029 wird spekuliert. Die letzte offizielle Kostenschätzung belaufe sich auf 22 Mrd. Euro, allerdings werden im schlimmsten Fall auch Kosten von über 50 Mrd. Euro befürchtet, so die Autor*innen.
Um zur Lösung der Klimakrise etwas beitragen zu können, kommt die Fusionstechnik jedenfalls zu spät, zumindest wenn Klimaschutz entschlossen betrieben wird: "Wenn Fusionskraftwerke nach gegenwärtiger Einschätzung frühestens ab Mitte des Jahrhunderts breit zur Verfügung stehen könnten, kämen sie voraussichtlich zu spät, um für die Dekarbonisierung der Energiewirtschaft einen Beitrag zu leisten. (...) In einer globalen Perspektive öffnet sich somit ein Anwendungsfenster für Fusionsenergie vor allem in Szenarien, in denen die Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen nur langsam erfolgt."
Bleibt die Frage, ob es bei einer solchen Perspektive nicht doch sinnvoller ist, was der mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnete Solar-Pionier Hermann Scheer schon vor gut 20 Jahren forderte: Man solle die Mittel, die in die Fusionsforschung gesteckt werden, gleich in die Energiewende stecken, und die Fusionsenergie der Sonne direkt nutzen.
Hier der Link zum Download des Berichts über den Weg zum Fusionsreaktor